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Deutschland - Vincent Klink - Wielandsöhe Stuttgart

 Von der Nouvelle Cuisine bis Heute - von Vincent Klink

Der feudalste Schuppen der klassischen Gourmandise wurde bereits von Carl Zuckmayer besungen. Im Restaurant Humplmayr in München verhackten wir Köche anfangs der 70er Jahre täglich 30 bretonische Hummer zu Cocktails. Es wurde aus dem Vollen geschöpft. Die Kundschaft war feudal.

Ein gewisser Baron Styler verzehrte mit seinem Kurzbeindackel ein Abo, welches im Monat ungefähr das Salär eines Vorstandsvorsitzenden ausmachte. Der Dackel bekam täglich, das ganze Jahr über, einen Hasenrücken auf Sterlingsilber. Uns Köchen ging’s nicht so gut. Wir waren zwanzig hartgesottene Bratenwender. Ausgemergelt und von Alkohol imprägniert brutzelten wir für sechzig Gäste, darunter Curd Jürgens, Prinz Aga Khan, Gunther Sachs. Der komplette Jetset wurde gefüttert.

Dann kam Eckardt Witzigmann frisch von Paul Bocuse und kochte im Restaurant "Tantris". Es war eine Detonation. Die "guten, alten Zeiten" waren vorbei, das "Humpl" über’s Jahr pleite. Unsere blasierten Kellner, die aussahen wie ins Alter gekommene Pinguine, blies es aus ihren Fräcken, stante pede in die staatliche Stütze. Der Pianist stürzte ganz ab und verfrachtete seinen Schwalbenschwanz ins Pfandhaus.

Der Wohlfahrtsstaat war bereits so weit gediehen, dass der Tastenheini, wie wir ihn nannten, ein Jahresabo beim Irrenarzt beanspruchen konnte. Zeit seines Lebens hatte er für die Begum und das bayerische Königshaus geklimpert und drunter machte er’s einfach nicht. Wenig später wurde das "Humplmayr", das einen Nachtclub beherbergte, den Salvador Dali einst ausgestattet hatte (betriebsintern: die Geisterbahn), abgerissen und seitdem ist der Münchner Maximiliansplatz weitgehend von Rolls-Royce-Karossen befreit.

Das "Tantris" von Chefkoch Eckardt Witzigmann war nicht nur die Geburtsstunde eines neuen Küchenstils, sondern auch der Demokratisierung der Feinschmeckerei. Die gutsherrlich knarzenden Feudalgäste bekamen dort keinen Fuß unter den Tisch. Das Personal ließ sich nicht mehr von oben herab drangsalieren. Jüngeres, modernes Publikum, das sich nicht mehr selbst in der dritten Person anredete, tafelte hier mit feiner Zunge. Der dritte Stern war 1979 fällig. Es war eine Sensation. Die "Nouvelle Cuisine" hatte man bereits hinter sich. Heute wird noch von Unwissenden über diese Küchenrevolution gelästert.

Ihre Kochtechniken haben aber immer noch Gültigkeit: Frische Grundprodukte, möglichst kurze Garzeiten, Gewürze hatten sich dem Produkt unterzuordnen. Vorbei die Zeiten des gefüllten "Bain Marie", das Wasserbad in dem vorgekochte Saucen dümpelten und warm gehaltene Beilagen vor sich hin brüteten. Über Nacht wurde das Gemüse "à la minute" gekocht. Der Gast mußte auf’s Essen länger warten, aber es lohnte sich. Im Grunde koche ich heute noch nach Maximen von Michel Guérard und Alain Chapel, die ich, nachdem ich 1978 meinen ersten Stern erhalten hatte, umgehend aufsuchte.

Witzigmann ist heute noch Österreicher, wir waren davon weit entfernt. Uns ritt der Teufel: deutsch sein heißt extrem sein. Deshalb kollabierte der neue Küchenstil hierzulande radikal forciert, zu einem Wahnsinn von abgemagerten Gemüsemüslis, weißem Tomatenschaum, viel heißer Luft und winzigen Portionen.

Frisch verheiratet hatte ich mir einen Schnauzbart sprießen lassen, um mein Milchgesicht etwas auf Italowestern zu trimmen. Mir waren die Grenzen der Gästefolterung schnell gesteckt. Meine Schwäbisch Gmünder Goldschmiede und Silberwarenfabrikanten waren weitgereist, hatten seit Generationen ihr Tafelsilber nach Paris geliefert. Das konnte nicht gut gehen. Immerhin kassierte ich meinen ersten Gästeanschiss mit der süffisanten Anrede -Herr-: "Also, Herr Klink, ihren Ziegentreiberbart rasieretse Se bitte ab, und ihr Tomatensorbee, diesen Scheiß, denn essetse bitte selber. Ond ihr stoiharts Gmüs, die grüne Steckelesböhnle, damit könnetse ons net verarscha!"

Der Spuk war also schnell vorüber, ich spurte, rasierte meinen Bart ab, mäßigte meinen künstlerischen Drang und die Gäste blieben mir erhalten. Mein Kumpel und Kollege Hubert Freund betrieb in Freiburg die "Eichhalde" und war wesentlich härter drauf. Als Amuse Gueule servierte er einmal zu einem Silvestermenü ein Schweinsohr und ein Kalbsauge. Beides logierte roh und krude glotzend auf feudalem Porzellan.

Er wollte seiner Kochkunst einen intellektuellen Schub geben und mit der Teller-Installation seinen entsetzten Gästen den Zeigefinger heben: "Hier gibt’s Nouvelle Cuisine. Hört, was ich Euch sage und sehet was hier gleich serviert wird!" Der Deutsche belehrt gern, weil er vom eigenen Krankheitsbild weiß wie mühsam er Neues im Kopf bunkert. Hubert Freund war übrigens der Erfinder von weißem Tomatenmus und zweierlei Süppchen, kalt und heiß.

In Frankreich war das alles vernünftiger und im Grunde die erste Gegenbewegung versus Fastfood- und Tiefkühlkocherei, weg von Ersatzprodukten, weg von der Mehlpampe.

Paule Bocuse war das Sprachrohr der Bewegung und ihm ist auch zu danken, dass der Koch aus seinen Küchendünsten hervortreten und die Gäste anfallen durfte. Der Koch war nicht mehr geheime Verschlusssache, nicht mehr Knecht, sondern stracks auf dem Wege zur Lifestile-Lichtgestalt. Die Gourmandise kam ins Gespräch und war nicht mehr alleiniger Gral gut betuchter Lustmolche. Die Göggeleswelle und Schmerbauchära war vorbei und die Deutschen lernten mühsam, dass Masse nicht gleich Klasse ist, dass Genuß auch mit Beschränkung zu tun haben kann.

Eigentlich ist in der Gastronomie alles erlaubt was dem Kunden gefällt. Man muss nur scharf hingucken wie lange dieser Gefallen findet. Die Küche war schon immer Moden gefolgt. Ohne sie geht es nicht, die Szene würde einschlafen und eine neue Berufsgruppe wäre nicht entstanden. Mit der Nouvelle Cuisine banden sich neben dem bereits etablierten Guide Michelin die ersten Restaurantkritiker das Brusttuch ans Doppelkinn. Klaus Besser, Wolfram Siebeck und der heute noch aktive Gerd von Pazcensky, waren die ersten und bewegten viel. Sie sorgten dafür, dass die kochende Zunft ins Gespräch kam.

Doch die Chefredakteure seriöser Zeitungen zupften in ihren Blättern nur mit spitzen Pfötchen an den Freuden der Tafel. Immer noch galt: "Intelligenz säuft und Dummheit frisst". Dieser Schwachsinn hat sich gottlob überlebt. Andererseits gibt es immer noch genügend Edelzungen mit Hirnvakuum, die glauben Tafelkultur in sich reinzufressen gebäre automatisch den Kulturmenschen. Wäre es so, dann hätten wir weit mehr Nobelpreisträger im Lande. Einer hätte ihn gewiss bekommen. In den Achtzigerjahren begann der Edeltrinker Harry Rodenstock mit organisiertem Showsuff und so mancher Neureiche glaubte sich beim Trinken hundert Jahre alten Bordeaux’ gleich als Historiker, promoviert durch eine exorbitante Rechnung.

Egal wie, der Laden musste in Schwung bleiben und es war gut so. Irgendeine Stimme der Vernunft regte sich in den fetten 80er Jahren einer der Gourmetschreiber, ich glaube, es war Wolfram Siebeck. Er hatte die Schnauze voll von Schaumsüppchen und so begannen die Pfannen wieder für Heimisches, für die "Neue Regionalküche" zu glühen. Die Helden des Kochlöffels transpirierten über innovativen Steckrübenrezepten und machten sich daran diese zu vergolden.

Ganz ohne Ironie, es wurden viele althergebrachte Gerichte wieder aufgelegt und modernisiert. Das war die Zeit, als mein Nachbar Erich mal über den Zaun rief: "He, Vincent, jetzt koschtet dr Roschbrata im Gaschthaus zom Affa achtazwanzigfuffzich!" Irgendwie war für viele Köche dieser Zuruf eine Initialzündung. Die richtig gute Maultasche, das Geheimnis dünner, handgeschabter Spätzle wurden den Omas entrissen und gelangten in die Hände von Gourmetköchen.

Der Rostbraten mit Fettkrüstle, der nicht wie ein gestanzter Kernseifenbrocken als Rumpsteak daherkommt, womöglich unter Frittenzwiebeln beerdigt, wurde für Feinschmecker gesellschaftsfähig. Damit war es schnell vorbei. Kurzum, die wirklich gute Regionalküche könnte man mittlerweile eigentlich unter Denkmalschutz stellen, denn gute Profiköche ließen wenig später bereits die Finger davon.

Es ist nicht so, dass Berufsköche zu blöd wären so gut wie Omas zu kochen. Aber sie wollen ja Geld dafür. Die Problematik liegt in den enormen Arbeitskosten, welche in der sogenannten "einfachen Küche" stecken. Die Omas und Tanten, welche früher in den Wirtschaften zum Nulltarif buckelten, sind abgetreten. Und der ziegenbärtige Jungkoch in Discohosen weiß heute entweder nicht wie’s geht, oder ist bei allem Ehrgeiz zu überlastet, weil ihm der Wirt keinen zweiten Kollegen zur Seite stellen kann.

Für ein Filetsteak kann er jeden Preis nehmen, die Rindsroulade unterliegt aber quasi einer historischen Preisbindung. Die Kundschaft erinnert sich hartnäckig daran, dass sie nie mehr als elf Mark gekostet hat. Und dann: von wegen "einfache Küche"! Allein die Herstellung eines dünnen Nudelteigs ist ein präziser Kraftakt. Dagegen könnte ein Jakobsmuscheltartar als Startnummer eines Kinderkochkurses von Sechsjährigen bewältigt werden.

Und da waren auch schon die 90er Jahre: Die regionale Küche war perdu, die modernisierte Klassik blieb. Paul Bocuse kochte wie eh und je, nur dass er nicht mehr von Nouvelle Cuisine sprach. Das schlechte Gedächtnis des Publikums ist das größte Pfund, nicht nur für Politiker und sonstige Showmaster, sonder für alle jene, die mit Publikum zu tun haben. Die Welt der Moden dreht sich Kreise.

So hat sich Deutschland zu einem veritablen Gourmetland entwickelt. Was nicht nur die Leistung der Köche, sondern auch der genießenden Bevölkerung ist. Ernährungsfundamentalisten und Müslis der ersten Stunde stehen mittlerweile im Beruf und haben ihren Bausparvertrag fast abbezahlt. Was mit Körnern begann, entwickelte sich in Deutschland zu einem ökologischen Qualitätsbewusstsein, das in Europa beispielhaft sein dürfte. Frankreich und Italien zehren von Ihrer großen kulinarischen Tradition. So ist dort Nachdenklichkeit über die Offensiven der Nahrungsindustrie noch nicht genügen in Alarmbereitschaft. Die Gefahren des kulturellen Verlusts sind nur von wenigen ernst eingeschätzt.

Dort wußte man schon immer wie man eine Artischocke richtig isst. Gutes Essen war eine Selbstverständlichkeit, deshalb begegnet man der gegenwärtigen Demontage alter Werte recht sorglos. Wir Deutschen mussten erst mal ganz unten durch den pampigen Eintopf, um dann ganz oben beim "Pot au feu von Wachteln" wieder raus zu kommen.

Vorbei ist gottlob die Zeit als ich meinem Blumenhändler in Gmünd eine gekochte Artischocke servierte. Er wusste nicht, dass man nur die Blattenden zu essen hat und dann den Boden. Er stopfte sich alles kompletti ins Maul. Ich warf mich dazwischen und da maulte er: "Laß me en Ruah, ich tue se moschta!

Es hat sich seither vieles geändert, Jung und alt wissen Bescheid. Die Leute kochen selber, ob dilettantisch oder Hardcore in der Amateurliga bei diversen Wettbewerben. Liebe Leserin, lieber Leser, wohin soll das alles führen, wenn ein Land nicht mehr geschlossen vor dem "Derrick" hockt, sondern kollektiv mit unzähligen Fernsehkochshows vor sich hindöst und mitschmatzt? Ganz klar, es wird weitergehen und die momentane Begeisterung für’s Kochen gründet auf der Sehnsucht nach Sicherheit.

Man will wissen, was im Essen drin ist, und empfindet oft die Küche als letzten sicheren Platz auf dieser Welt. Restaurants haben dies zu berücksichtigen. Die "Mitteltaler Tafelrunde" jährliches Gesprächsforum der Hochgastronomie und der darin involvierten Journalisten bestätigte es. Die Leute sind auf der Suche nach Heimat, Geborgenheit, Sicherheit. Das können Restaurants und intelligente Köche durchaus bieten. Da muss man nicht lange orakeln wie der zukünftliche Küchenstil sich entwickeln wird.

Egal, was ein Koch treibt, er muss seine Identität auf Authentizität gründen. Das Essvolk will kochende Überzeugungstäter. Viele Avantgardisten des Jahres 2004 kreieren viel Gutes. Stuss und Irrweg sind auch dabei, die vergehende Zeit wird es aufzeigen. Ein kürzlich von mir aus einem Plastikröhrchen gesaugtes Gelee eines Dreisternekochs, ein solcherart Furz, wird schnell vergessen sein. Amuse-Gueule-Menüs winzige Zungenkaspereien, die stundenlang aufgetragen und penetrant-pädagogisch dem wehrlosen Gast erklärt werden, entsprechen unserer momentanen Fernseh-Zapperei und Schnäppchenmentalität. Das ist nicht jedermanns Sache: Es ist eine Art Déjà-vu: dieselben Symptome wie weiland bei der Nouvelle Cuisine".

Momentan sind die verrücktesten Kombinationen angesagt, man isst beim weltberühmten Ferran Adrià in Nordspanien das erste Mal, changiert zwischen Verblüffung, Staunen und Schock. Da steckt durchaus Genialität eines außergewöhnlichen Kochs dahinter, beim zweiten Besuch regen sich jedoch bei erdgepolten Gaumenprofis die Zweifel und beim dritten Besuch hat man die Schnauze gestrichen voll, so der Hamburger Restaurantkritiker H. Janssen, der sich durch ein Menü von 46 aufeinanderfolgenden Edelpartikeln arbeitete, es nicht glauben konnte und sich am nächsten Tag das ganze nochmal antat. Dieselbe Folter. Der weltberühmte Koch Alain Ducasse ließ immer schon die Finger vom Diffusen und Deutschlands Superkoch Harald Wohlfahrt hat sogar seine Amuse Bouches reduziert. Denn viele kleine Häppchen sind zwar modisch, dem wahren Könner und seinem Gast geht es aber nicht um Zerstreuung, sondern um Konzentration.

Bemerkenswert, die kulinarisch-modischen Exzesse kommen nie aus tiefer gastronomischer Kultur. Die Nouvelle Cuisine wurde von den wenig vorbelasteten Deutschen ad absurdum geführt und die momentanen Moden kommen aus Spanien, das sich seither, wie damals Deutschland, eher als frugale Futterstelle zeigte. Auch aus dem zungenkruden England hört man die verrücktesten Sachen. Ganz klar, wer nur eine schwache Tradition der Hochküche hat, der hat den Rücken frei.

Trotz allem, der Kochberuf, vor allem auch der Gourmetjournalismus, braucht Neuerer, sie bringen die Sache voran, auch wenn die Zeit vieles berichtigen wird. Schlimm sind nur die Koch-Epigonen. Da sind unreif kochende Profilneurotiker am Werkeln und die Gäste absolvieren die im kreativen Ultraschall schlingernden Schöpfungen als Testpiloten. An der Stelle muss ich meine zwanzig Jahre alte Losung zum Besten geben: "Der menschliche Magen ist nur begrenzt innovationsfreudig". Heute sind wilde Köche heftig dabei mit der Püree-Kohlensäure-Schaumkanone die raren Feinschmecker abzuknallen und befolgen die gleiche Betriebsanleitung ihrer Nouvelle-Cuisine-Übertreiber um, im Namen der Kunst, den Laden leer zu kochen.

Ein Blick noch auf die Zukunft: Wann kommt Cyberfood und die totale Denaturierung? Die Zeit wird’s richten. Köche, die der Nahrungsmittelindustrie in die Hände arbeiten, werden viel Geld verdienen, aber als unglückliche Köche sterben. Von komplettem Gaststättensterben übrigens keine Spur, nur lässt sich der Kunde nicht mehr verblüffen, weil er oft mehr weiß als der Gastronom. Der rotierende Schneebesen der Zungenlust wird sich weiter drehen und in Perioden das "Rohe oder Gekochte" abwechselnd favorisieren. Gerade läuft es auf Verfeinerung hinaus. Das Publikum ist aber schon weiter. Der Überdruss an Artifiziellem weckt bereits Wünsche nach Frugalem. Momentan läutet Wolfram Siebeck eine erdgebundene Zeit ein und rief mir neulich zu: "Vincent, hüte dich vor Schaumsüppchen!"

Vincent Klink

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